Innerer Frieden, äußerer Frieden

West oder Ost, konservativ oder liberal, Amerika oder Russland, Impfbefürworter oder Impfgegner, Demokratie oder Kapitalismus, Umweltschutz oder Klimawahn, Raucher oder Nichtraucher, Fleischesser oder Vegetarier, Idealist oder Materialist, Spiritualität oder Intelligenz, Schulmedizin oder alternative Heilkunde, Religion oder Wissenschaft … Haben Sie sich schon entschieden, zu welcher dieser Kategorien Sie gehören? Nein? Dann wird es aber Zeit!

Denn ja, heutzutage muss man zu einer dieser (und vieler weiterer) Seiten stehen, man muss sich positionieren, sonst ist man kein ernstzunehmender Mensch. Egal wohin man blickt, ob in die Abendnachrichten, in ein Freizeitmagazin oder ins Schaufenster einer Apotheke: Man wird belehrt, unterrichtet und mit Argumenten überzeugt, die in sich folgerichtig und meistens von Studien oder Umfragen untermauert sind. Am Ende eines Tages hat man verschiedene, oft widersprüchliche Standpunkte eingenommen und sie mitunter in unversöhnlichen Diskussionen verteidigt, auch wenn sie sich bei manchen Menschen stündlich verändern, je nachdem, in welchen Zeitschriften sie zwischenzeitlich geblättert oder welche Nachrichtensendung sie konsumiert haben. Manche Menschen sind indessen so eingenommen von einer Sache, dass sie sogar Kriege dafür beginnen, ob nun solche mit physischen oder welche mit verbalen Waffen. Es wird auf jeden Fall gefeuert, was das Zeug hält, und die Opfer fallen reihenweise.

Das ist insbesondere deshalb unbedacht, da es wirklich schwierig geworden ist, aus der Informationsflut das herauszufiltern, was wahr und richtig ist. Meistens ist es sogar unmöglich. Man landet auf irgendeiner Quellenseite, die zwar seriös aussehen und klingen mag, aber was weiß man schon wirklich über sie? Kann man den Quellen trauen? Wer verfasst bzw. entwickelt die Quellen? Für wen arbeitet er? Für wen arbeitet wiederum dessen Arbeitgeber? Wer finanziert die Webseite / Zeitung / Sendung, wer hostet sie, welche Weltbilder haben diese Menschen, welche Ziele verfolgen sie, wer hat sie ausgebildet, aus welchen Familien stammen sie … So kann man endlos weitermachen, vielleicht stößt man dann irgendwann auf Steintafeln und Höhlenmalereien. Klüger ist man nicht, zumindest nicht in Hinsicht auf die Faktenprüfung – aber womöglich ist man es in anderer Beziehung doch. Das ganze Spielchen, die Auseinandersetzung mit diesen Standpunkten sowie der Versuch, eine Position einzunehmen oder sie bis aufs Blut zu verteidigen, führt im besten Fall zur Selbsterkenntnis.

Es lohnt sich, einmal eine Diskussion sehr aufmerksam zu verfolgen. Schon wenn sich nur zwei Personen über ein Thema unterhalten, kann das sehr aufschlussreich sein. Oftmals findet man, wenn man konzentriert zuhört und jeweils bis zu Ende denkt, in einem einzigen Satz Darlegungen, die zwei sich völlig widersprechenden Weltbildern angehören. Und wenn die Sterne besonders gut stehen, ist man es selbst, der diesen Satz äußert. Das ist der Jackpot: Es ist ein sicherer Hinweis darauf, dass man nur etwas nachplappert, von dem man keineswegs überzeugt ist. Wäre man überzeugt, könnte man unmöglich einmal dies, das nächste Mal jenes behaupten und dabei zwei Göttern huldigen. Es wäre einem völlig bewusst, welchen Unsinn man redet respektive warum man es macht.

Ja, warum macht man das? Warum denkt jedermann, er müsste sich unbedingt für eine Seite entscheiden und sich positionieren? Ist es so wichtig, sich entweder mit Russland oder mit Amerika zu identifizieren? Muss man darüber streiten, ob CO2 nun dem Klima schadet oder nicht? Ob der Merkur der Erde wirklich näher ist als die Venus? Ob die Sommerzeit besser ist als die Winterzeit?

Betrachtet man diese Fragen von praktischen Gesichtspunkten aus, lautet die Antwort eindeutig Nein. Es macht keinen Unterschied im Alltag, ob man dieses oder jenes glaubt. Nehmen wir eines der Beispiele, die am meisten mit Emotionen überladen sind; sehen wir, ob die CO2-Frage relevant ist: CO2, so heißt es, schade dem Klima und es sei von Vorteil, wenn man den Ausstoß reduziere. Nun hat diese Theorie Gegner, die sagen, es spiele keine Rolle, der menschengemachte CO2-Ausstoß sei ohnehin sehr gering bzw. schade keineswegs. Tritt man aus dieser Diskussion heraus, betrachtet sie aus der Vogelperspektive, sieht man ohne große Probleme: Es ist einerlei, ob das nun stimmt oder nicht, denn ein vernünftiger, verantwortungsbewusster Mensch geht mit der Umwelt – mit der Natur – logischerweise genauso gewissenhaft, fürsorglich und respektvoll um wie mit seinen nächsten Angehörigen und wie mit sich selbst. Für ihn ist es ganz normal, nur das zu machen, was im Einklang mit allem Lebendigen, mit dem Leben selbst ist. Er brächte es nicht über sich, der Natur willentlich Schaden zuzufügen. Dieser Mensch käme weder auf die Idee, Wälder abzuholzen, noch auf die, irgendwelche Fabriken zu errichten, wo doch allein schon deren Erbauungen einen gewaltsamen Eingriff in die Natur bedeuten. Warum also sollte er über CO2 nachdenken, geschweige denn darüber streiten? Ein schlechtes Gewissen lässt er sich überdies erst recht nicht machen, immerhin hat er keinen Grund, sich schuldig zu fühlen, weil er die Argumente beider Seiten durchschaut.

Insofern ist diese Frage hinfällig, ja mehr noch, sie ist überflüssig. Vielmehr müsste das grundlegende und mitunter kulturelle Grundverhältnis Natur – Mensch und damit das dahinterliegende Weltbild überprüft werden, will man eine flächendeckende Veränderung bewirken. Das könnte zur kollektiven Neuausrichtung und zu einer gesünderen Zukunft führen. Das klingt einfach, aber die Schwierigkeit liegt in der Eigenverantwortung, die jeder einzelne Mensch für sich – für sein Denken, sein Fühlen, sein Handeln und Sprechen – übernehmen müsste.

Wo wir beim springenden Punkt wären. Innerer Frieden entsteht nicht, indem man sich über äußere Angelegenheiten echauffiert, mit aller Macht einen Standpunkt verteidigt, nach Antworten – nach Fakten – oder nach einer neuen esoterischen Methode sucht, mit der sich endlich die spirituelle Erleuchtung einstellen möge. Jede solche Beschäftigung führt zwangsläufig tiefer in die Spaltung. Man grenzt nur die einen Gedanken, die einen Gefühle, die eine Methode oder jene Menschen von den anderen ab, degradiert und erhöht automatisch und spaltet, spaltet, spaltet. So entstehen am Ende Kriege und eine unvorstellbare Zahl an Opfern.

Den Ursprung dieser Spaltungen findet man ausschließlich in sich selbst. Die Kriege, die man alltäglich in seinem Umfeld beobachten kann, sind nichts weiter als Ausdrücke dieser inneren Konflikte. Dass unser Hauptaugenmerk auf unserer Umgebung und den Handlungen anderer liegt und nicht auf das gerichtet ist, was in uns geschieht, ist der wahre Grund für all unser Unglück. Ein Mensch, der Wut spürt, sie vollends wahrnehmen und rationalisieren kann und das Gefühl weder unterdrückt noch verdrängt, kann schwerlich hinausgehen und seinen Zorn an einem anderen auslassen. Er versteht sich und seine Motive und empfindet nicht mehr den triebhaften Drang, anderen vorsätzlich wehzutun. Er weiß, damit würde er lediglich den Kessel weiter anheizen und am Laufen halten. Das wäre nicht nur absurd, es wäre masochistisch. Und das ist es in der Tat auch dann, wenn man sich dieser inneren Vorgänge nicht bewusst ist. Unwissenheit schützt an dieser Stelle nicht vor den Auswirkungen. Merkwürdig nur, dass wir seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden bzw. ein Leben lang beständig dieselben Fehler machen und wieder und wieder in Schlachten ziehen, uns streiten und auf Belanglosigkeiten herumreiten, wo doch selbst ein Kind nur einmal in die Flamme langen muss, um zu wissen: Das tut weh, das mache ich nicht noch mal.

An dieser Stelle beginnen Spiritualität und Esoterik, die beide den Blick nach innen meinen. Man muss keine Geister beschwören, Séancen halten, Stühle rücken oder beim Channeling irgendjemanden durch sich sprechen lassen, um spirituell zu sein. Das alles sind wiederum nur Ablenkungen von der wahren Magie und Mystik, die in der Transformation des eigenen Ich hin zum dahinterliegenden Selbst (und darüber hinaus) besteht. Dabei können äußere Hilfsmittel unterstützen, aber tun muss man es dennoch selbst. Das kann einem niemand abnehmen.

Wie aber geht man nun in der Praxis vor?

Der erste Schritt ist wie immer der schwierigste, danach läuft alles wie von selbst: Den Anfang macht die Überprüfung des Motivs, das man hat. Warum möchte man überhaupt inneren Frieden erreichen? Warum lässt man nicht einfach alles so, wie es ist?
Wer bei der Beantwortung dieser Frage nicht am Ende bei einer so hässlichen Angst landet, dass er vor ihr zurückschreckt, hat nicht gründlich genug hingesehen. Das ist wahrlich kein angenehmer Prozess, denn man fängt an, in den düsteren, schmierigen und spiegelnden Tiefen des Unterbewusstseins zu graben.

Zuerst geht man durch reine Äußerlichkeiten, sieht sich als gefeierten Guru, als sanfte Heilerin, starken Zauberer, weisen Einsiedler etc, doch dabei darf man nicht stehen bleiben, da sollte man sich nichts vormachen. Das sind Eitelkeiten, die niemandem Frieden bringen, weder einem selbst noch der Erdbevölkerung. Wiederum sollte man sich fragen: Warum möchte ich das?, und nicht eher lockerlassen, bis diese äußeren Bilder sich als das zu erkennen gegeben haben, was sie sind: Trugbilder.

Im nächsten Schritt trifft man auf verdrängte Unzulänglichkeiten, erkennt alte Bekannte wieder, die man vielleicht in der Kindheit oder Jugend abgeschoben hat. Gefühle wie Minderwertigkeit, Schüchternheit, Aggression oder Jähzorn tauchen auf. Auch bei ihnen sollte man nicht verweilen. Man muss sie weder noch einmal durchleiden noch feiern. Es reicht, sie anzusehen, die Energie zurückzuholen, die womöglich noch in ihnen steckt, und sie abzuhaken.

Sodann gelangt man noch tiefer und blickt hinter die Schutzwälle, die man angelegt hat. Dort ruhen die Ursachen: die hässlichen Ängste. Ihnen ins Angesicht zu sehen kostet großen Mut. Es geht hierbei immerhin um die eigene Existenz, nichts Geringeres greifen diese Ängste an. Wer an diesem Punkt innerlich so weit gereift ist, um die alles entscheidende Frage stellen und die Antwort vernehmen zu können, wird all diese Ängste als das erkennen, was auch sie sind: selbsterschaffene Trugbilder.
Auf diese Weise kann man bei allen Themen vorgehen. Nicht jeder macht es so, es gibt viele andere Methoden – Hauptsache, man stößt bis ins Innerste vor. Darum geht es, um nichts sonst.

Ist jeder einzelne Mensch demnach schuld am Zustand der Welt? Sind wir alle mitverantwortlich für die Kriege, die Hungersnöte, die Morde, die Umweltverschmutzung und alle anderen Arten von Schrecknissen? Nein, natürlich nicht. Auf gar keinen Fall. Niemals. Das dürften wir keine Sekunde lang glauben und es uns auch nicht einreden lassen, weder wenn es von politischen oder gesellschaftlichen Seiten kommt noch von esoterischen oder spirituellen.
Die Verantwortung für all dies tragen immer diejenigen, die das Ganze lostreten. Niemand sonst.
Aber man kann durchaus das Vorhandensein der Schrecknisse und die Tatsache, dass man auf sie aufmerksam wird und sich vielleicht sogar emotional oder gedanklich damit beschäftigt, als Hinweis und Aufforderung betrachten, um zu überprüfen, ob es nicht etwas im eigenen Inneren gibt, das gesehen werden möchte.
Auf diesem Weg gelangt man zu innerem Frieden, und der äußere wird zwangsläufig folgen.

 

© 2019, Melanie Risi-Meier