Ist der Körper vom Teufel und die Seele von Gott?

 

Es kann schon furchtbar nervig sein, wenn der Geist willig, das Fleisch aber schwach ist, nicht wahr? Man hat sich etwas vorgenommen, möchte an diesem einen Tag unbedingt etwas zu Ende bringen, aber dann fängt jäh der Schädel zu hämmern an. Abends wollte man den Bekannten treffen, den man seit Monaten nicht mehr gesehen hat, und wenn man ihm endlich gegenübersitzt, ist man so müde, dass man seinen Erzählungen kaum folgen kann. Während der Meditation schläft das dumme Gefährt ständig ein, außerdem will es andauernd essen, am liebsten Sachen, die als ungesund gelten. Warum läuft er beim Joggen nicht schneller und ist generell so träge? Und wie sieht er überhaupt aus, dieser Körper? Warum dieses Gesicht? Diese Augen? Dieser Hintern, diese Beine, diese Hände? Weshalb ausgerechnet dieses Geschlecht? … Ach, der Körper!

Wir haben schon eine seltsame Beziehung zu ihm. Während die meisten Menschen glauben, sie seien ihr Körper, sagen andere, sie wohnten nur darin. Die einen möchten ihn unterwerfen, die anderen hegen und pflegen ihn. Menschen, die vorrangig im Denken oder im Geist verankert sind, merken die meiste Zeit kaum, dass es ihn tatsächlich gibt und er Bedürfnisse hat. Sinnlich veranlagte Typen können nicht genug davon bekommen, den Körper auf allen Ebenen zu spüren. Erstere vergessen schon einmal zu essen, zu schlafen oder zu duschen, zweitere essen, schlafen und duschen zu viel. Wieder andere joggen an vielbefahrenen Straßen im Abgasgestank in den schönsten Kleidungen und mit den hübschesten Frisuren, eine Wolke Parfum hinter sich nachziehend wie einen Kometenschweif, was dem Smog ernstlich Konkurrenz macht. In Wäldern und Parks sieht man vor lauter Radfahrern, Joggern, Walkern und Spaziergängern kaum noch die Bäume und riecht fast nichts anderes mehr als Seifen, Sprays und Insektenschutzmittel, ganz zu schweigen von dem, was man hört oder nicht hört. Im Lärm der gebrüllten Unterhaltungen, dem Hämmern der Nordic-Walking-Stöcke, der Musik, die aus Lautsprechern und Kopfhörern dröhnt, den Schreien nach ungehorsamen Hunden und dem Säuseln von Reifen über Erde oder Kies geht das Wispern des Flusses, das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln und der Gesang der Vögel unter.

Da stellt sich die Frage, ob überhaupt jemand begriffen hat, was es mit dem Körper auf sich hat und wie man mit ihm umgeht. Es wirkt tatsächlich so, als würden die Sportler dem Tod davonlaufen, die Denker ihm mit einer besonders scharfsinnigen Argumentationskette oder neuen wissenschaftlichen Gerätschaften ausweichen und die Gesundheitsfanatiker ihn, diesen Fleischfresser, mit Bio- und vegetarischem oder veganem Essen abschrecken wollen. Friss mich nicht, ich bin Veganer und schmecke nicht!
Wer eine Nahtod- oder eine sog. Samadhi-Erfahrung hatte, kann darüber nur lachen, wobei er niemanden auslacht, weil ein wahres, von tief innen kommendes Lachen niemals höhnisch, sondern immer freudig und verbindend ist. Er weiß, dass sich keiner vor dem Tod fürchtet. Er weiß, sie fürchten sich in Wahrheit vor der Geburt. Und er lacht, weil die Geburt unweigerlich kommen und das Schönste sein wird, was ihnen widerfahren kann.

Es ist schwierig, etwas über den Körper zu schreiben, ohne missverstanden zu werden. Es ist eine Unmöglichkeit, etwas Wahres zu sagen, weil das Wort als solches polarisiert, das ist seine Natur (mehr über die Macht des Wortes in der vorangegangenen Ausgabe Nr. 108). Der Versuch soll trotzdem gewagt werden, wobei darauf hingewiesen sei, dass es paradox klingen wird.

Es ist egal, ob man daran glaubt, der Körper zu sein oder nur darin zu wohnen. Beides entspricht nicht der Wirklichkeit (und ist dennoch nicht falsch), schlicht weil die Wirklichkeit nichts mit einem Glauben zu tun hat. An die Wirklichkeit muss man nicht glauben, sie existiert einfach. Der Glaube kann eine Brücke sein, die Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen, doch wenn man sie erfahren hat, braucht man weder einen Glauben noch Wissen von außen. Es entsteht inneres Wissen.

Wir gehen zunächst trotzdem davon aus, im Körper zu wohnen, weil von dieser „Glaubensbrücke“ aus der Bogen gespannt werden kann. Wenn wir im Körper wohnen, sind wir nicht der Körper. Wir sind nicht dieses Gesicht, nicht dieser Hintern, nicht dieses Fleisch und – was viele zu vergessen scheinen – damit auch nicht dieses Geschlecht. Die sexuelle Polung, die Bezeichnung, die wir uns geben, Mann, Frau, Transgender oder Transsexuelle(r), ist somit ebenfalls nichts anderes als eine Illusion. Denken wir diesen Gedanken wirklich zu Ende, müssen wir zu diesem Schluss kommen: Wir sind weder das eine noch das andere. Unser Körper mag das sein, doch wir sind es nicht.
An dieser Stelle treffen wir auf das erste Paradoxon. Denn für viele ist das kaum zu begreifen, weil sie zutiefst mit ihrem Geschlecht identifiziert sind bzw. unsere Wahrnehmung (aufgrund der Sprache) polar ist und ein geschlechtsloses Wesen deshalb unvorstellbar ist. Das Problem ist, dass wir auf körperlicher Ebene darüber nachdenken statt auf geistiger (nicht das Entweder-oder-Denken ist gefragt, sondern das Sowohl-als-Auch): Wenn wir nicht der Körper sind, ist das, was darin lebt, nicht geschlechtslos, sondern es besitzt beide Geschlechter. Es muss beide besitzen, weil es nur dadurch eines davon (oder eine Mischform) auf materieller Ebene ausbilden kann. Es ist geschlechtslos, weil es beide Geschlechter in sich trägt und sie damit aufhebt.

An diesem Punkt könnte man demnach sagen: Ich bin geschlechtslos und besitze einen Körper, der ein Geschlecht hat. Ergo: Mein Körper ist eine Frau – mein Körper ist ein Mann.

Wenn man nun zu hören bekommt, alles im Leben drehe sich um den Sex, würde man von diesem Blickwinkel aus ganz entspannt sowohl verneinen als auch bejahen können: Nein, ich kreise nicht um den Sex, und ja, mein Körper tut das. Es ist nichts weiter dabei zuzugeben, dass der Körper vorrangig die Aufgabe der Fortpflanzung hat, dass er auf nichts anderes ausgelegt und aus einem solchen Akt hervorgegangen ist, wenn man sich nicht mehr mit ihm und dem Geschlecht identifiziert. Im Handumdrehen ist man von inneren Krämpfen befreit, die die Menschheit über Jahrtausende geplagt haben. Man entledigt sich unter anderem dem Gehirngespinst, irgendwelche Kriterien erfüllen zu müssen, um ein „gestandener Mann“ oder eine „richtige Frau“ zu sein. Man weiß ja jetzt, dass man in Wahrheit nichts davon und beides zugleich ist, der Rest betrifft den Körper, der man nicht ist. Alles andere sind Buchstaben auf einem Papier, auf dem Personalausweis etwa, die keine wesentliche Bedeutung haben. Und nebenbei beendet das den Zwist zwischen Mann und Frau und rückt die Emanzipation wieder gerade. Wer käme noch auf die Idee, einer Frau weniger für eine Arbeit zu bezahlen als einem Mann, wenn er wüsste, dass diese Kategorisierungen illusorisch sind? Welche Frau würde noch versuchen, zu einem Mannsweib zu werden und den Männern den Rang abzulaufen? Welcher Mann würde sich länger verbieten, seine weiche Seite zu leben, wenn all diese Schubladen geleert sind? Darüber würde man höchstens lachen, freudig und verbindend selbstverständlich.

Zurück zum Sowohl-als-auch-Denken, das unheimlich wichtig ist. Wir sind nämlich durchaus unser Körper. Das wird auch dem Verstand zugänglich, wenn man eine entsprechende Erfahrung gemacht hat. In Wirklichkeit ist es so, dass wir nicht im Körper sind, sondern der Körper ist in uns: Auf zum nächsten Paradoxon.

Wer davon ausgeht, er sei nicht sein Körper, wird spätestens dann vor eine schwere Prüfung gestellt, wenn ihn der Hunger einholt, ihn eine Krankheit plagt oder er feststellt, in einem männlichen Körper gefangen zu sein und sich als Frau zu fühlen oder umgekehrt. Wie stark die Verbindung zu diesem Vehikel, das man doch gar nicht ist, an dieser Stelle wird, hat jeder von uns schon einmal erlebt. Plötzlich ist man mit jeder Faser der Körper, der Schmerz lässt sich nicht abstellen, Gefühle überwältigen einen, alle Kontrolle geht flöten und übrig bleibt nichts als schweres Fleisch, das nicht willig ist, sich losgelöst vom Geist zu präsentieren. Das liegt nun einmal an der Tatsache, dass der Körper in uns ist. Wir sind beides zugleich, sind Körper und nicht Körper, sind mehr als er und doch an ihn „gebunden“, zumindest auf dieser Ebene des Seins.
Unsere sinnliche Wahrnehmung, das Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken, stellt über die Emotionen, Gefühle und das Denken die Verbindung zu dem her, was wir sind. Diese Sinne sind dem Körper zugehörig, genauso wie indirekt die Emotionen, Gefühle und das Denken. Sie alle sind nicht das, was wir sind. Sie sind in uns.
Wenn wir nun noch einmal zurückgehen und uns daran erinnern, nicht der Körper zu sein, und diese Annahme mit dieser neuen verknüpfen, müssen wir noch einen Gedanken fertigdenken. Wir müssen den Körper zwangsläufig als eigenständiges Lebewesen betrachten. Er lebt eindeutig, und das ganz unabhängig davon, ob wir uns darum kümmern. Er atmet, verdaut, entgiftet, fährt für uns Auto, setzt beim Joggen am Straßenrand einen Fuß vor den anderen, und währenddessen produziert (genauer: empfängt) er Gefühle und Gedanken, mit denen wir uns identifizieren können. Er hat ein Eigenleben (und ist ein ungeheurer Multitasker). Dafür spricht überdies die Annahme, dass der Körper in uns ist. Was in einem ist, ist sowohl Teil von einem als auch etwas Unabhängiges, so wie der Magen zum Körper gehört, aber nicht der ganze Körper ist.

Spulen wir zurück. Wir sind nicht der Körper, aber er ist in uns. Der Körper ist Mann, Frau, Transgender oder transsexuell, kurzum, er ist sexuell. Er ist ein autonomes Wesen, an das wir angebunden sind, um durch „seine“ Sinne und „seine“ Emotionen, Gefühle und Gedanken das materielle Dasein erleben zu können. Die Gesamtheit all dessen, was der Körper ist und empfängt (Kinder ausgeschlossen), könnte man als die Persönlichkeit bezeichnen, mit der wir uns bisweilen verwechseln und die einen Namen erhalten hat.
Das nächste Paradoxon ist somit dieses: Wir sind der Körper, sind diese Persönlichkeit und diese Namen, weil wir die fleischlichen Sinne benutzen, um die Aufmerksamkeit zu lenken. Zugleich sind wir nicht er, genauso wenig wie sich der Körper darauf beschränken ließe, Magen genannt zu werden, obwohl er einen solchen besitzt und dessen Fähigkeiten nutzt.

Mit all diesen Gedanken im Hinterkopf schauen wir einmal nach, was wir den ganzen Tag so treiben. Gucken wir uns einfach aufmerksam zu. Was machen wir mit unserem Körper? Was verlangen wir von ihm? Wie gehen wir mit ihm um? Gehört das, was wir uns von ihm wünschen, wirklich zu seinen Fähigkeiten? Wenn wir mit ihm schimpfen, kreiden wir ihm nicht hauptsächlich etwas an, wofür er gar nichts kann?
Wer hat bereits versucht, durch bloßen sexuellen Kontakt von Körper zu Körper im anderen aufzugehen respektive das Gefühl von Einsamkeit loszuwerden?
Wer hat seinen Körper im Spiegel angeblickt und abgelehnt, was er sah?
Wer hat seinen Körper zu einer Diät oder einem Sport gezwungen, obwohl beides überhaupt nicht dessen Bedürfnissen und Anlagen entsprach?
Wer treibt seinen Körper zu Rekordleistungen, lässt ihm nicht ausreichend Schlaf, führt ihm nicht die nötigen Nahrungsmittel zu und gönnt ihm keine Ruhe, wenn er sie braucht?

Wie, in Gottes Namen, soll ein solcher Körper je freudige Gefühle und aufbauende Gedanken beherbergen und zu Schönheit gelangen können, wenn wir ihm nicht einmal den Hauch einer Chance geben? – und das, obwohl er doch alles für uns unternimmt, höriger Diener und liebeshungrig ist und er sich nichts weiter wünscht, als wahr- und ernstgenommen zu werden!

Der Weg zur Verbundenheit mit allem, was ist, führt nicht über den Körper, und doch kommen wir nicht um ihn herum, wenn wir im Diesseits auch nur einen wahren Hauch davon erfahren wollen. Der Tempel will verstanden, gereinigt und geliebt werden, weil das zu einer ganzheitlichen Ausrichtung dazugehört. Der Körper ist nicht vom Teufel, unser Umgang mit ihm kann allerdings teuflisch sein. Ihn wie einen Christbaum zu schmücken, täglich über die Straßen zu jagen oder anderweitig zu peinigen ist keine Begegnung mit ihm, sondern Verdrängung. Die „eingekörperte“ Seele, die sich mit der Persönlichkeit verwechselt, führt dabei nur ein fruchtloses und auf kurz oder lang leidvolles Selbstgespräch, indes der Körper weiterhin ungesehen und ungehört bleibt.

Eine einfache Frage kann vielleicht zum Ziel führen: Wessen Hände sind es, die all die geistigen, höheren Ideen praktisch umsetzen und ihnen in letzter Instanz materielle Gestalt verleihen?

 

© 2019, Melanie Risi-Meier