Der Weg zur wahren und guten Schönheit

 

»Nur das Leichtere trägt auf leichten Schultern der Schöngeist,
Aber der schöne Geist trägt das Gewichtige leicht.«

Quelle: Schiller, Friedrich, Gedichte. Tabulae Votivae, in: Musenalmanach 1797

 

Spiritualität und Esoterik sind unterschiedliche Begriffe, die in ihrer Essenz dennoch dasselbe meinen. Sie weisen auf einen Einweihungsweg hin, der nach innen führt, der unser eigenes, individuelles Wesen transformiert. Äußere Methoden, wie sie inzwischen massenweise angeboten werden, sind dabei so etwas wie Krücken, wie die stützenden Hände einer Aufsichtsperson bei schwierigen akrobatischen Übungen, die aber nur in der Anfangsphase gebraucht und zum Hindernis werden, sobald man es allein und eigenständig hinbekommt.

Der Weg in das eigene Innere kann schwierig und abschreckend sein. Viele Menschen ertragen die Stille nicht, sie müssen stets abgelenkt, beschallt und beschäftigt werden. Doch in jedem Leben öffnet sich irgendwann ein Fenster in diese innere Welt, und wer sodann den Schritt wagt, an dieses Fenster heranzutreten und einen Blick hineinzuwerfen, hat viel gewonnen. Für ihn beginnt eine ganz besondere Reise: die Reise zum Kern, zur Wahrheit, zum eigenen Sein.

Wir alle sind Menschen, und als solche tragen wir unsere »Päckchen« mit uns herum. Diese Päckchen wollen aufgemacht und in Augenschein genommen werden, sobald man sich auf diese Reise macht. Das ist nicht immer leicht, nicht immer einfach, und oft brauchen wir großes Vertrauen und volle Hingabe an das Leben, um uns überhaupt einzugestehen, dass ein solches Päckchen nun vor uns auf dem Tisch liegt. Wie viel größer muss dann der Mut sein, das Schleifchen aufzubinden und hineinzusehen, ahnt man doch, man wird sich ins eigene Gesicht blicken und nicht schön finden, was man sieht. Aber woher nimmt man dieses Vertrauen, wie gelangt man an die nötige Hingabe und wie schöpft man ausreichend Mut? Und wie weiß man, dass man auf dem richtigen Weg ist und sich nicht verläuft?

Wir leben in einer ganz besonderen Zeit. Wir blicken nicht nur auf einen riesigen Fundus an Wissen, an Kunstwerken, Lehren und Meisterstücken aller Art zurück, wir haben auch freien Zugang dazu. Es gibt nicht mehr vieles, was uns verborgen ist, und selbst von diesem Verborgenen trennen uns oft nur die richtigen Fragen, die nötige Aufmerksamkeit und wenige Mausklicks. Es liegt gänzlich bei uns, womit wir uns beschäftigen, wohin wir unser Augenmerk richten, welche Ideen wir nähren und inwieweit und in welche Richtung wir unseren Geist ausbilden. Dass unsere Schulen und Universitäten keine Weisheit vermitteln, sondern gerade einmal das Kurzzeitgedächtnis trainieren und hörige Bürger heranbilden, ist mittlerweile auch den Lehrern und Professoren bekannt. Aus den Medien erfahren wir vieles, meistens aber nicht die ganze Wahrheit, und das erschließt sich jetzt auch den Journalisten. Die Wendezeit ist gekommen, und aufgrund dieser Umbrüche und aus Gewohnheit sehen sich viele nach neuen Leitfiguren, neuen Gurus, neuen Krücken und nach neuen Buhmännern um, doch all dies kann nicht die Antwort sein. So ist der Mensch seit Jahrhunderten verfahren, und wir sehen heute, wohin uns das bringt.

Wirft man einen Blick auf die zurückliegenden Jahrhunderte, findet man aber nicht nur Krieg, Terror, Mord und politische Ränke. Man kann auch dort hinsehen, wo die Schönheit liegt, und sie lag und liegt schon immer in der Kunst. Die Kunst hat alles überlebt, sie überdauerte selbst die dunkelsten Momente und leuchtete gerade in ihnen hell und strahlend. Damit war sie schon immer ein Hoffnungsträger, berührte die Herzen der Menschen, verband Tausende auf unsichtbare Weise und erzeugte freudvolle und heilsame Gefühle, wo sie am dringendsten gebraucht wurden.

Aus der Kunst ging jedoch sehr viel mehr hervor als nur das. Sie gebar Kulturen, Philosophien und die Wissenschaften, und wenn diese Behauptung nun aufgrund der vagen Begrifflichkeiten auch nicht wissenschaftlich sein kann, so müssen wir doch anerkennen, dass all unsere modernen Errungenschaften einer menschlichen Eigenschaft zugrunde liegen, und diese nennen wir lapidar Schöpfertum oder Kreativität.

Nach Platon ist Kreativität (von lat. creare für »hervorbringen«, »erschaffen«, aber auch »gebären«) vor allem eine Tat, die allein dem Absoluten, also Gott vorbehalten ist. Der Mensch kann zwar kreativ sein, dabei allerdings nur auf jene Ideen zurückgreifen, die Gott bereits erschuf. (Für Platon waren Ideen Urbilder, nach denen sich die für uns wahrnehmbare Realität formt.) Aus dem Nichts heraus vermag der Mensch demnach nichts zu »gebären«; er kann nur umformen, was bereits ist. Dieser im ersten Moment sehr trockenen Lehre werden all jene zustimmen, die wahrhaftig kreativ tätig waren oder sind, denn sie alle sagen voller Demut eines über diesen Prozess aus: Nicht sie waren es, die die Idee hatten oder das Werk vollbrachten. Es fiel ihnen vielmehr zu. Man könnte auch sagen, sie besaßen die Antenne, um die Idee einzufangen. Für mich, die ich diese Erfahrung andauernd mache, ist das bewiesen. Ich erschaffe nichts, sondern bin nur das »Medium«, das es auf die Welt bringt. Die Idee war vor mir da, und es obliegt mir und meinen Fähigkeiten, sie so gut, wahr und schön wiederzugeben wie möglich.

Inwiefern es ein spiritueller Weg ist, um überhaupt diese Fähigkeiten zu erlangen, habe ich in einem früheren Artikel beschrieben (»Kreativität: Die rote Pille«, Ausgabe 110). Begreift man Kreativität also als einen solchen »heiligen Akt« und nimmt ihm all die Banalitäten und das Hässliche, das ihm im Laufe des letzten Jahrhunderts angeheftet wurde, erkennt man darin unweigerlich die Bedeutung der wahren Kunst, die nur das Schöne, Wahre und Gute hervorbringen kann – vorausgesetzt natürlich, man geht davon aus, Gott sei das Schöne, Wahre und Gute und damit Vater desselben, was zwangsläufig das Hässliche, die Lüge und das Schlechte ausschließt. Wir gehen davon aus, wir nehmen es als Selbstverständlichkeit an. Echte Kunst ist somit stets ein Leuchtfeuer der Wahrhaftigkeit, ein Quell der Inspiration, etwas Aufbauendes, Verbindendes, Heilsames und Erhebendes.

In den heutigen Zeiten wird es wichtiger denn je, solche Unterscheidungen vorzunehmen und sich einen Wolf nicht als ein Schaf verkaufen zu lassen. Nicht alles, was das Prädikat Kunst trägt, ist Kunst. Viele der sogenannten Kunstwerke erfüllen ihren Zweck, sie haben ihre Daseinsberechtigung und dürfen und sollen erzeugt werden, doch echte Kunst gibt es nur sehr selten. Das Unterscheidungsmerkmal liegt in der Quelle, aus der sie geschöpft wurde, und derer gibt es viele, während es die göttliche Quelle nur einmal gibt. Die Ausdrucksmöglichkeiten wiederum sind vielschichtig, vielseitig und individuell geprägt, die Quelle aber bleibt dieselbe. Und sie identifiziert man sehr einfach, denn man muss sich nur fragen: Ist das, was man als Werk vor sich hat, gut, schön und wahr? Das ist nicht immer so leicht zu beantworten, denn …

Es braucht schon einen herangereiften, ausgebildeten und großen Geist, um diese Attribute erkennen und unterscheiden zu können. Schönheit allein ist nicht unbedingt gut, und ein gutes, das heißt, ein technisch und handwerklich gelungenes Stück ist nicht automatisch auch schön. Wie viele auf den ersten Blick gute, schöne Werke wiederum beinhalten die Wahrheit? Wer von uns vermag eine Wertung über das handwerkliche Geschick eines Künstlers abzugeben? Wer kann die daraus entstehende Ästhetik erkennen, die wahre Schönheit gebiert? Und wessen Geist ist derart auf die Wahrheit ausgerichtet, dass er sie aus dem Meer aus Lügen problemlos herauslesen kann?

Was zu früheren Zeiten den Aristokraten vorbehalten war, nämlich die kulturelle Erziehung und künstlerische Bildung, überlassen wir heute zum Großteil den Akademikern. Das »gemeine Volk« bleibt erneut auf der Strecke. Dabei ist es ein Zeichen der Selbstachtung und der Wertschätzung des eigenen Geistes, denselben auch in dieser Hinsicht zu entfalten, immerhin führt dieser Weg direkt ins eigene Innere und bewirkt Transformation. Man richtet die Aufmerksamkeit nicht länger auf das Banale und Oberflächliche, sondern ergründet die Tiefen des Daseins. Wir müssen auch nicht bei null anfangen, denn wir sind ja nur wenige Mausklicks von allerlei Hilfsmitteln entfernt, immerhin werden wir nicht die Ersten sein, die sich mit solchen strahlenden Leuchtfeuern befassen. Wir müssen es nur beginnen, es uns zutrauen und Durchhaltevermögen beweisen.

Bei unserem Blick über die Menschheitsgeschichte also sehen wir einige solch strahlender Leuchtfeuer. Bei der Beschäftigung mit ihren guten, schönen und wahren Kunstwerken blicken wir nicht nur durch das anfangs beschriebene Fenster in unser Inneres, wir stoßen es sogar auf und treten ein. Wir ergreifen dabei die Hand Gottes, die sich uns unablässig entgegenstreckt und die uns führen wird, sodass wir uns nicht verlaufen können. Und wir beginnen, unseren Geist zu veredeln, ihn für das Schöne zugänglich zu machen, unser Auge für die Wahrheit zu öffnen und das Gute in all dem zu erkennen. All dies wird uns Kraft geben, das Vertrauen ins Leben aufbauen und uns einen Mut verleihen, den wir vielleicht für unmöglich hielten.

»Nur das Leichtere trägt auf leichten Schultern der Schöngeist, aber der schöne Geist trägt das Gewichtige leicht«, schrieb Schiller, eine jener Quellen strahlender Leuchtfeuer, und er schrieb es zu Recht. Der Schöngeist allein kann nur das Leichte fassen, kann sich nur mit leichter Kost beschäftigen und sie verstehen, denn auch seine Schultern sind leicht. Sie können nichts Gehaltvolles tragen, weil er sie nicht darauf vorbereitet hat. Der schöne Geist hingegen, der herangebildete, der aus sich selbst herausgewachsene und in sich gefestigte Geist, der seine Schultern trainiert hat, vermag auch das Gewichtige leicht zu tragen. Und was ist gewichtiger als das Gute, Wahre und Schöne, das Gott ist!

 

© 2020, Melanie Risi-Meier