Die Schönheit in der Krise

Lasst uns mehr Feinsinnigkeit wagen – jetzt erst recht!

Von spirituell ausgerichteten Menschen und Optimisten bekommt man immer wieder zu hören, man solle in allem stets das Gute und Schöne sehen und in Krisenzeiten auf die Kleinigkeiten achten, die das Leben lebenswert machen. Höhnisch klingen solche Aussagen in den Ohren derer, die inmitten von Krisen stecken, die um ihre finanzielle Existenz kämpfen oder schwer krank sind, die keinen Ausweg aus ihrer misslichen Lage sehen oder in eine Zukunft blicken, die gar zu düster, ja geradezu unheilvoll erscheint. Was sind solche bloßen Worte wert in Zeiten, in denen die Welt um einen herum in Eiseskälte erstarrt und man Gefahr läuft, von dieser Kälte ergriffen zu werden? Diese Worte sind alles wert – wenn man die Schönheit richtig versteht.

Das Geheimnis der Optimisten
Unsere Welt ist oberflächlich und banal geworden. Jeder Anflug von Mystik, von Erhabenheit und von Feinsinnigkeit wird umgehend totgeschlagen, und das bereits in unseren eigenen Gedanken und Empfindungen. Idealismus: etwas für naive Menschen. Religiosität: etwas für ungebildete Menschen. Mitgefühl: etwas für Masochisten. Schönheit: etwas für Traumtänzer, die die simplen Gleichungen, die physikalischen Gesetzmäßigkeiten und die biochemischen Vorgänge nicht kennen, die Schönheit erzeugen. Und das doch nur in uns, in unserer Wahrnehmung, in unserer Vorstellung, in unserer Einbildung. Denn „dort draußen“ existiert keine Schönheit. Nichts ist an sich schön, nichts ist aus sich selbst heraus schön. Das gibt es nicht, und wer das doch glaubt, der weiß halt nichts. Damit ist das Thema Schönheit für viele beendet.

Die Wirklichkeit zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild. Wenn wir uns nur einen Tag lang selbst aufmerksam beobachten, können wir sehen, wie ergreifend und berührend die Schönheit ist, sobald sie uns „dort draußen“ jäh begegnet. Ein zufälliger Blick auf eine Rose am Wegesrand erzeugt ein flüchtiges, aber sehr tiefes Wohlgefühl, und wenn man dann auch noch so geistesgegenwärtig und vernünftig ist, um an der Rose zu schnuppern, wird unser ganzes Wesen von jetzt auf gleich von einer stillen Freude ergriffen. Das Lächeln eines Kindes erfüllt uns mit derselben Freude. Der anstimmende Chor in einer Symphonie beschert uns einen Schauder. Die Farbenpracht des Blätterwaldes im Herbst ist ein Genuss für das Auge. Das saftige Grün des Sommers, diese reiche Fülle der Natur, bereichert unsere Gesundheit und unsere Stimmung. Ein liebevolles Wort erhebt unser ganzes Wesen. – Und das geschieht immer, ganz gleich, wie es uns zuvor ging.

Das Geheimnis der Optimisten liegt nicht darin, dass sie etwas sehen bzw. empfinden, was nicht da wäre. Ihr Geheimnis ist sehr viel tiefgründiger. Es offenbart sich unter anderem, wenn man das Wort „schön“ näher betrachtet.

Schönheit schauen
„Schön“ gehört zur Wortgruppe von „schauen“ und bedeutete ursprünglich „ansehnlich; das, was gesehen wird“(1). „Schön“ kommt also nicht ohne „schauen“ aus, wenn man es richtig verstehen will. Also schauen wir auch unter „schauen“ nach: „Schauen“ ist laut Wortherkunft nicht automatisch synonym mit „sehen“, auch wenn es landläufig so verwendet wird. „Schauen“ bedeutet weit mehr, nämlich das absichtliche Blicken oder Beobachten, und (in gehobener Sprache) sogar das innere, geistige Sehen.

Das heißt, Schönheit ist abhängig vom „korrekten“ Schauen, korrekt in der Hinsicht, dass es von einer Absicht begleitet wird. Die Absicht liegt natürlich darin, Schönheit erkennen zu können, ja erkennen zu wollen. Schönheit ist das, was gesehen wird, sie ist „an-sehn-lich“, und um sie mit den physischen Augen sehen zu können, muss man das Schauen schulen. Das Schauen wiederum ist ein inneres, geistiges Sehen, also etwas, das in uns geschieht. Insofern stimmt es: Schönheit empfinden wir in uns – das haben Empfindungen so an sich. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit, wie wir jetzt erkennen. Denn wir brauchen auch den äußeren Gegenstand, der durch seine ihm innewohnende Schönheit unser uns innewohnendes Schönheitsempfinden anspricht. Wäre es nicht so, bräuchten wir nicht Ausschau nach Schönheit zu halten und würden nicht von der äußeren Schönheit angesprochen werden. Mit anderen Worten, es braucht einen Sinn, damit man Schönheit erkennen kann. Einen feinen Sinn, einen Feinsinn: Feinsinnigkeit.

Jetzt, in dieser weltweiten Krise, haben wir also einen starken Verbündeten: die Schönheit. Sie wird verkannt und nicht mehr erkannt, befindet sich in einer Notlage, und auch viele von uns befinden sich in einer solchen. Wenn wir uns mit der Schönheit zusammentun, das absichtliche Schauen schulen und sie „dort draußen“ wiederfinden, erwecken wir sie gleichzeitig in uns zum Leben. Sie wird unsere Aufmerksamkeit neu ausrichten, unsere Wahrnehmung von Grund auf verändern, und man muss schon zugeben: Es ist ein erhabenes und erhebendes Gefühl, selbst in der größten Zwangslage zu schönen Empfindungen fähig zu sein. Oder etwa nicht?

„Die Blume vergeht, aber die Schönheit bleibt“
Es wird sogar noch besser. Wer die Schönheit bald überall und ohne Anstrengung erkennt, findet hinter der äußeren Erscheinung eine unendliche, ewige Schönheit. „Die Blume vergeht, aber die Schönheit bleibt“, schrieb schon Hans Scholl von der Kriegsfront in Russland an seine Mutter und an seine Schwester(2). Die Schönheit bleibt natürlich in uns bestehen, und wieder stimmt es: Schönheit empfinden wir in uns. Aber auch diesmal ist es nur zur Hälfte wahr, denn sie ist eben auch subtil überall gegenwärtig, in jedem Moment, in jedem Herzschlag, in jedem Atemzug. Unsere kultivierte Feinsinnigkeit wird es uns ermöglichen, sie unter allen Umständen und in jeder Situation schauen zu können.

Bei Menschen, die beispielsweise das Lachen und Rufen von spielenden Kindern als belästigenden Krach empfinden und darin nicht die Schönheit erkennen, sehen jetzt wir den Fehler in der Wahrnehmung. Sie sind auf irgendeine Art und Weise ver-rückt, ihre Wahrnehmung ist vom Normalzustand ver- oder abgerückt. Menschen wiederum, die auf diese Ver-rückten losgehen und gar mit ihnen zu streiten beginnen, müssen noch verrückter sein. Die Kinder vor dem Verrückten beschützen? Ja. Über den Verrückten herfallen und ihn seinerseits beschimpfen? Sinnlos. Dieses Beispiel darf man gern auf aktuelle Geschehnisse übertragen, denn am Grad der Auseinandersetzung, den man mit anderen eingeht oder der im eigenen Gefühls- und Gedankenleben vorherrscht, lässt sich gut ablesen, wie viel Schönheit man zu schauen imstande ist.

Apropos Schönheit: Jemand behauptete einmal, die Schönheit käme nie allein daher. Dieser Jemand postulierte, zur Schönheit würden auch das Wahre und das Gute gehören, so wie der Ast und das Blatt zum Baum. Wenn es schon erhebend und erhaben ist, in den schrecklichsten Momenten zu schönen, feinen Empfindungen fähig zu sein, wie schön muss es dann sein, wenn das auch noch gut und wahr ist?!

Lasst uns mehr Feinsinnigkeit wagen – jetzt erst recht!

© 2021, Melanie Risi-Meier



Quellen:

(1) Bd. 7. Duden. „Etymologie“: Bibliographisches Institut & F.A. Brockhaus AG, 1989. S. 647 und S. 622f.
(2) http://www.kultour-innovativ.de/Schoen.pdf