30.09.2018 – allgemeiner Beitrag (auch erschienen bei mystica.tv)
Links oder rechts, Schwarz oder Rot, Hund oder Katze, richtig oder falsch, Religiosität oder Wissenschaft, West oder Ost, Demokratie oder Kommunismus … – entweder, oder.
Mit zunehmendem Entsetzen verfolge ich das Geschehen sowohl in den Medien als auch um mich herum. Etwas wird für mich dabei immer deutlicher, vor allem deshalb, da ich im Moment viel Zeit habe, um die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung zu beobachten als auch in Interaktion mit ihnen zu treten. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema fand schließlich ihren Höhepunkt, als ich von den Vorkommnissen in Chemnitz erfuhr und die Reaktionen mit Entsetzen nachverfolgte, wiederum sowohl global als auch im persönlichen Umfeld.
Soweit ich zurückdenken kann, fiel es mir schwer, mich in vermeintlich wichtigen gesellschaftlichen Fragen für eine Seite zu entscheiden. In Sachen Politik folgte ich gewissermaßen der Familientradition, und wenn es zu Diskussionen kam, auch abseits der politischen Landschaft, nahm ich entweder eine Position ein, weil sie von einem geschätzten Menschen vertreten wurde, oder weil ich provozieren und/oder meine rhetorischen Fähigkeiten testen wollte. Wahrscheinlich geht es den meisten Menschen ebenso: Sie haben eine Meinung, weil sie von den Eltern vorgelebt wird oder weil sie gegen dieselben rebellieren.
In Wahrheit aber war es für mich schon immer ein Rätsel, wie man sich angesichts der vielschichtigen und ständig verändernden Umstände auf einen Standpunkt festlegen und diesen beibehalten kann.
Sehr lange war ich zutiefst verunsichert, weil mir nicht gelang, was anderen so leicht von der Hand zu gehen schien: Fakten einholen, abwägen, in sich hineinhören und -fühlen, das Ganze analysieren und zu einem Schluss kommen, der für etwas und/oder gegen etwas ist. (Jedenfalls dachte ich, so machten es alle.) Ich konnte nie zu einem Schluss kommen, kann es bis heute nicht, und das gipfelte schließlich darin, dass ich irgendwann aufhörte, an derartigen Diskussionen teilzunehmen und mich ausschwieg. Ich wurde zur „Meinungslosen“, zumindest in gesellschaftlichen, politischen und geopolitischen Fragen.
Wenn man anfängt zu schweigen, wird man automatisch zum Zeugen. Man stellt Fragen, lauscht den Argumenten der anderen, kann sich auch problemlos Reden anhören, die gegen die Einstellung gehen, die man einmal hatte (was man ansonsten kaum oder nur in gewissem Rahmen kann), positioniert sich aber selbst nicht mehr und gehört damit nicht länger zu einem Lager.
Im Zuge dessen wurde mir nicht nur meine Meinungslosigkeit bewusst, sondern eben auch die Gründe, warum ich dennoch Argumente nachplapperte, mich für andere stritt und gewissermaßen zu einem Aufziehäffchen geworden war, das man nur anstupsen musste, damit es im Kreis rannte. Kurzum, meine Aufmerksamkeit glitt anfangs unbemerkt, inzwischen bewusst herbeigeführt, von den äußeren Geschehnissen in mein Innenleben ab. Und weil ich die Trigger nun kenne, die mich früher im Gleichschritt meiner Gesinnungsverwandten haben losmarschieren lassen (bildlich gesprochen), sehe ich dieselben Mechanismen natürlich jetzt auch ganz deutlich bei anderen im Hintergrund ablaufen.
Sie sind allesamt Fallen, diese Trigger und Mechanismen, und sie können und werden an manchen Stellen auch aktiv und gewollt eingesetzt, so zumindest meine Überzeugung.
Nun sehe ich mich also um und höre von überall die absurdesten Streitgespräche, die sich allesamt darum drehen, auf welcher Seite man stehe und ob man damit richtig liege. Weltweit sterben täglich Menschen durch Gewaltverbrechen, anschließend werden stichprobenartig die Lebenseinstellung, Herkunft und politische sowie religiöse Angehörigkeit sowohl der Opfer als auch der Täter überprüft und zum Diskurs gestellt. Die Gewalt setzt sich in den Diskussionen übergangslos fort, man prügelt aufeinander ein, schießt mit der „einzig wahren Richtigkeit“ auf den anderen, tötet einander mit den Waffen verschiedener Geschmacksrichtungen und Farben, und selbst ehrenwerte Galionsfiguren versäumen es nicht, über dem Feindeslager ihre intellektuellen und damit eiskalten Streubomben niedergehen zu lassen, die die Zivilbevölkerung genauso treffen wie militante Stützpunkte. Dabei sonnen sich ausnahmslos alle in den hehren Strahlen des gerechten Zorns, der ihre geröteten Stirnen und Wangen weiter aufheizt und sie nicht gerade schöner macht (das Paradox schlechthin, dieser „gerechte Zorn“, zumindest in diesem Zusammenhang).
Tante Anneliese aus dem Kindergarten wird genauso zum Krieger wie der Nachbar Horst, der bereits seit Jahren mit dem Schlagring für seine rechte Sache einsteht, oder wie der junge Andreas, der lieber linksum geht, weil er dort seine Keule versteckt hat.
Aber ist wirklich alles eine Frage des Standpunktes? Ist ein Standpunkt überhaupt ebenerdig? Stehen beide Beine tatsächlich auf gleicher Höhe, oder muss man den Untergrund nicht erst mit Gewalt ebnen und mit Asphalt überziehen, damit das so ist? Und bekommt nicht der beste Asphalt mit der Zeit Risse, hebt sich und wird wieder höckerig?
Was dann? Was, wenn der Boden, auf dem man sich sein Identifikationsschloss gebaut hat, jäh absinkt und der errichtete Palast dem schiefen Turm von Pisa ähnelt? Geht man dann hin und schlägt einfach auf denjenigen ein, dessen Türmchen noch nicht in Schieflage geraten ist, auf dass es ihm schon heute und nicht erst morgen ebenso ergehe?
Ich weigere mich, mich einem Lager zuzuordnen. Wozu ich früher gern fähig gewesen wäre, das bin ich heute aus einem Selbstverständnis heraus, das sich allmählich entwickelt hat, ganz bewusst nicht. Alles was ich mir selbst zu denken, zu glauben und zu wissen erlaube, ist das: Ich bin Mensch. Das ist meine Identität, und jede weitere Identifikation ist Nebensache. Und durch dieses Selbstverständnis ändert sich auch automatisch meine Sichtweise auf meine Mitmenschen, das bleibt nicht aus.
Wenn so etwas wie in Chemnitz geschieht, bedeutet das, dass alles, was ich erkenne, das ist: Ein Mensch hat einen anderen Menschen getötet.
Die Absurdität dieser Tat, das Sinnlose und deshalb zutiefst Traurige daran offenbart sich innerhalb dieser einfachen Worte: Ein Mensch hat einen anderen Menschen getötet.
Mehr Verständnis braucht es nicht. Es ist weder komplizierter noch undurchsichtiger oder gar „ausweglos“. All diese Phrasen entlarven sich als ebenjene in dem Moment, in dem man die Angelegenheit auf diese Einfachheit herunterbricht.
Und – schwups! – habe sogar ich einen Standpunkt, nämlich den, dass ich nicht gewalttätig sein möchte, weil es absurd ist. Es entbehrt jeder Logik, und verdrehte Argumentationen, die Gewalt jeder Art dennoch diesen Anstrich geben möchten, haben nicht die geringste Chance, weil ich sie schon im Entkeimen als unlogisch erkenne. Ich bleibe gewaltlos, und das im Denken, im Fühlen, im Sprechen und im Handeln.
Alles andere, jede politische Ideologie, Ausrichtung oder Einfärbung, ist schließlich ein künstlich erschaffenes Konstrukt, mit dem ich mich identifizieren kann, ohne dass es meine Identität beeinflusst. Zwischen beiden Wörtern besteht ein wichtiger Unterschied: Eine Identität habe ich, ob ich will oder nicht, während eine Identifikation allein meiner Wahl entspringt und sich damit jederzeit ändern kann. Mit dem Menschsein bin ich identisch, mit einer politischen oder religiösen Ausrichtung identifiziere ich mich.
Und hier beginnt die Gewaltlosigkeit, denn wer sich dieses Umstandes bewusst ist, wirklich bewusst, der wird nicht ins Bodenlose fallen, sobald ihn die Partei, die er seit seinem 18. Lebensjahr gewählt hat, eklatant enttäuscht oder er seine Arbeitsstelle verliert oder der Partner ihn verlässt oder … – nun, die Liste ist wahrscheinlich endlos. Das enthebt ihn nicht bestimmter Gefühlszustände, aber es verhindert den Fall ins Bodenlose und in die Gewalt. Er fühlt sich in einer sehr natürlichen Art und Weise frei und sicher, weil seine Freiheit und Sicherheit auf festem Grund stehen und sich nicht jäh auflösen. Sie können sich nicht auflösen, weil sie in seinem Inneren gründen, auf seiner Identität, während Identifikationen immer nur im Außen ihren Ursprung haben und damit auch von anderen niedergerissen werden können.
Auch die Gewalt hat ihren Anfang im Kleinen, im Subtilen. Es beginnt bei uns selbst.
Es beginnt an der Kasse im Supermarkt, an der man gewalttätig gegen den Vordermann wird, weil man zu nah aufrückt und in seine Distanzzone eindringt. Es beginnt bei den wütenden Worten, die man an die Verkäuferin richtet, weil die Gepflogenheiten ihres Arbeitgebers nicht den Erwartungen entsprechen. Es beginnt bei der Ameise, die man absichtlich unter der Schuhsohle zermalmt. Es beginnt bei dem Satz, den man über einen Bekannten äußert, um ihn in Diskredit zu bringen. Es beginnt beim morgendlichen Blick in den Spiegel, bei dem man ein Gesicht sieht, das man nicht akzeptieren will. Es beginnt bei der Vorstellung, die man von sich hat und der man einfach nicht gerecht werden kann. Es beginnt bei dem Gedanken, das Leben sei verschwendet, wenn man nicht dieses und jenes erhielte oder erreiche, und sei es die verschriene spirituelle Erleuchtung. Es beginnt bei der Vergewaltigung des eigenen Selbst, weil man sich zu einer Arbeit zwingt, die einem nicht liegt. Es beginnt bei der Kleidung, die in den meisten Fällen eine Verkleidung ist. Es beginnt bei dem Titel, den man erwirbt und mit dem man sich verwechselt. Und so weiter und so fort …
All das spaltet uns innerlich, bringt uns von unserer Identität ab und zwingt uns in abstrakte Gedankenlabyrinthe, die überhaupt nicht essenziell sind. Sie sind nicht einmal wichtig. Im Gegenteil, sie sind unsäglich unwichtig.
Einer Katze, die seit Jahren verzweifelt zu fliegen versucht, weil sie in einem Lebensratgeber (geschrieben von einem Kolibri) gelesen hat, das sei Voraussetzung für ein glückliches Leben, würden wir auch nicht anraten, noch härter zu trainieren. Wir würden ihr sagen, dass sie den Ratgeber wegwerfen und sich hinlegen und schlafen soll, weil es das ist, was ihresgleichen hauptsächlich unternehmen. Wir würden ihr sagen, sie hätte Jahre ihres Lebens mit dem Versuch vergeudet, etwas zu sein, was sie nicht ist.
Wir aber erkennen unsere eigenen Flugversuche nicht, sind auf diesem Auge blind, springen wieder und wieder von derselben Klippe und wundern uns anschließend über das viele Wasser und die schwere Kleidung, die uns in die Tiefe zieht. Nach einem solchen Tauchgang ist man selbstverständlich sehr erschöpft. Da bleibt gerade noch ausreichend Kraft übrig, um dem Nebenmann, der sich auch zurück auf die Klippe schleppt, mürrisch zuzunicken, mehr ist schon nicht mehr drin.
Die Herausforderung liegt nicht da draußen im (geo-) politischen Geschehen oder in der Gesellschaft. Sie liegt in uns, in jedem Einzelnen von uns. Wir müssen besagtes Auge sehend machen, das gerade noch blind in der Höhle rollt, und uns selbst damit betrachten. Einen anderen Weg gibt es nicht.
Vielleicht hören wir dann auch auf, uns gegenseitig in diese Entweder-oder-Schubladen zu packen, die uns entmenschlichen. Vielleicht können wir uns dann auf die wirklich wichtigen Fragen – nein, auf deren Lösungen konzentrieren, die sich damit beschäftigen, wie wir jedem Lebewesen auf diesem wunderbaren Planeten (Planet eingeschlossen) eine würdige Lebensgrundlage schaffen, auf der er sich frei entwickeln und auf der er gedeihen kann. Meine Gedanken kreisen um nichts anderes mehr, zumindest bin ich darum bemüht.
Ich bin guter Dinge. Täglich begegne ich vielen Menschen, und aus vereinzelten und manchmal verstohlenen Gesten, Worten, Blicken und Handlungen kann ich den Sanftmut und die Güte, die Identität, herauslesen, die unter all den Identifikationen verschütt gegangen ist. Wenn man die Mitmenschen darauf anzusprechen weiß, nicht unbedingt und nicht immer verbal, bekennen sie sich sogar dazu, und das macht mir Mut und schafft Hoffnung.
Von Herzen,
eure Melanie Meier