Um sich bei diesen Wörtern etwas denken zu können, das hilfreich, schön, wahr und gut ist, seien sie zunächst einmal definiert. Die rote Pille kennt wohl inzwischen jeder: Sie führt denjenigen, der sie schluckt, aus den Illusionen – aus der Matrix, der Welt der Maya – heraus. Klingt einfach, ist es aber nicht. Um die Pille hinunterzubekommen, braucht man schon eine gehörige Portion Mut, immerhin tauscht man das Bekannte gegen das Unbekannte, das Sichere gegen das Unsichere, die Bequemlichkeit gegen die Anstrengung, kurzum, man verlässt das gemachte Nest und zieht aus, um sehen zu lernen und die Wirklichkeit in Erfahrung zu bringen.
Was die Kreativität angeht, ist es wohl nicht ganz so einfach mit der Klärung. Sie ist nebulöser, vor allem in unseren Zeiten, da Tätigkeiten als kreativ gelten, die in Wahrheit mechanisch ausgeführt werden und weder etwas Neues entstehen lassen noch sonderlich nützlich sind. Das Wort selbst weist auf eine Aktivität hin, die etwas erschafft, also auf menschliches Schöpfertum. Versuchen wir, der Sache auf den Grund zu gehen und prüfen, ob Kreativität einer der Wege sein kann, die aus der Illusion herausführen.
Wer ein künstlerisches Talent sein eigen nennt, weiß, dass zunächst ein spezielles Bedürfnis vorherrscht. Es gibt da diesen unsäglichen Druck in der Brust, dieses Ziehen unter der Schädeldecke, den tiefen inneren Wunsch, es zu tun: Man möchte jenes Musikstück spielen, dieses Bild malen, jene Geschichte erzählen oder diese Skulptur formen können. Die ersten Versuche allerdings sind miserabel und kommen nicht einmal annähernd an das heran, was man vor dem inneren Auge sieht oder im Kopf hört. Nun sind die einen entmutigt, die anderen aber werden von dem Misslingen angestachelt. Sie finden etwas, das man gemeinhin Disziplin nennt, benutzen es und üben, üben, üben, fragen, fragen, fragen, lernen, lernen, lernen. Sie hören nie wieder damit auf, in diese Richtung diszipliniert zu sein, denn sie entdecken: Umso ausgereifter die reine Technik ist, wie etwa das Beherrschen eines Instruments, desto freier kann sich die Kreativität entfalten und desto reiner, klarer und wahrer wird das, was dabei entsteht. Und meistens ist es um so vieles erhabener als alles, was man sich vorgestellt hat.
Aber was geschieht während eines solchen Schöpfungsprozesses? Wie kann aus dem Nichts heraus etwas entstehen, das selbst die Vorstellungen des Künstlers übertrifft?
Das erste Geheimnis ist bereits benannt: üben, üben, üben, fragen, fragen, fragen, lernen, lernen, lernen. Ohne das wird man nicht zum Meister über die Tätigkeit. Die Liebe zur Ausführung ist dabei federführend, denn wer sich dazu zwingen muss, geht den Weg eines anderen und nicht seinen eigenen. Es ist nicht die Aufgabe aller, Künstler zu werden, und das ist gut so. Wer es aber unternimmt, der wird dahinkommen, irgendwann nicht mehr darüber nachdenken zu müssen, auf welche Weise er etwas tut. Der Klavierspieler wird nicht mehr darüber nachdenken, wohin er seine Finger legt – die Finger werden sich selbst erinnern können, das Tun ist in sie „eingefleischt“ und gehört fortan zu den Körpererinnerungen.
Wer das spielerisch, aber dennoch mit Ernsthaftigkeit hinbekommen hat, steht vor der nächsten Hürde. Bis hierhin war alles, was man hervorgebracht hat, kalt und unbeseelt, weil das in der Sache selbst begründet liegt. Verstand und Körper waren gefordert, sie mussten einstudieren, pauken und trainieren, und was nur auf dieser Ebene geschöpft wird, ist von Natur aus kalt und unbeseelt (das ist kein Urteil, sondern eine Feststellung). Jemand, der das praktiziert hat, fühlt und ahnt, dass nun etwas Größeres wartet. Dieses Größere stellt sich ein, wenn man an dieser Stelle die Disziplin um eine weitere Fähigkeit ergänzt: Hingabe.
Nun ist der Moment gekommen, den Lehrer zu töten: Man gibt alles auf, was man zu wissen glaubt, unterzieht alle eingebläuten Regeln und Gesetze einer genauen Prüfung und verwirft, was nicht zu einem passt. Allem voran sollte man genau und ehrlich überprüfen, warum man Musik spielt, malt, schreibt, Bildhauerei betreibt etc. Im Idealfall erinnert man sich an den Grund, weshalb man ursprünglich damit begonnen hat, erinnert sich an das naive, aufrichtige Bedürfnis und die Freude und Liebe, die einen dazu getrieben haben. Dieser Trieb sowie das Bedürfnis dürfen nun ebenfalls sterben, sie sind hinfällig, werden nicht mehr gebraucht. Übrig bleiben am Ende die Freude und die Liebe, die der reinen Tätigkeit entspringen.
Wenn man den Lehrer wirklich getötet hat, wenn er beerdigt und begraben ist, gibt es keinen Grund mehr, der erlernten Kunst weiterhin nachzugehen – bis auf einen. Man musiziert, malt, formt oder schreibt um der Sache willen. Man macht es nur, um es zu machen. Alles andere, wie etwa Erfolg oder finanzielle bzw. allgemeine Bestätigungen, sind die unwichtigste Nebensache der Welt.
So, wie Sie Auto fahren, werden Sie auch kreativ sein. Sie achten nicht auf das, was Sie machen, wenn Sie abbiegen müssen, und Sie achten nicht auf das, was Sie mit dem Pinsel machen, wenn Sie ein Gesicht zeichnen. Sie denken nicht ans Autofahren, Sie denken nicht ans Malen. Die Kreativität, wenn sie eine sein möchte, geht aber noch einen Schritt weiter: Sie denken dabei gar nicht mehr.
Dieser Vorgang, dieses innere Leerwerden, ist so subtil und unscheinbar, es fällt den meisten gar nicht auf. Es ist der menschliche Normalzustand, in den man zurückkehrt – warum sollte das auffallen? Erst wenn jemand danach fragt, wird es dem Kreativen bewusst: Ich trat zur Seite, ich war nicht mehr da, mein Verstand war still, es gab keine Gedanken, keine Absicht und keine Einmischung, kein Interesse am Endresultat. Das ist absolute Hingabe an die Sache, die man gerade macht. Das Ergebnis, das irgendwann als Kunstwerk vor einem liegt, betrachtet man anschließend, als sehe man es zum ersten Mal. Es ist auch so, man – der Verstand, das Ego – sieht es erstmalig und ist erstaunt: „Das habe ich gemacht?“ Und im Laufe der Zeit wird er sich selbst antworten: „Das habe nicht ich gemacht, aber ich war beteiligt. Ich gab die Form, der Inhalt kam von anderer Quelle.“
Man kann diesen Zustand nicht durch Anstrengung erreichen, aber auf dem Weg dorthin wird Anstrengung benötigt. Man kann nicht sagen, es solle still werden im Kopf, weil dieser Gedanke die Stille vernichtet. Man kann auch nicht darauf hinarbeiten, ein Meister zu werden, obwohl man dafür viel lernen und üben muss. Es ist um ein Vielfaches einfacher, denn wenn man es ein einziges Mal geschafft hat, unwillentlich und selbstlos zur Seite zu treten und mit dem bloßen Tun zu verschmelzen, wird es kaum noch anders gehen. Man weiß gar nicht mehr, wie es anders funktionieren könnte und wundert sich über alle, die sich so außerordentlich placken.
Und dann, irgendwann nach ungezählten Wiederholungen, steht man vor der nächsten und dritten Hürde. Man hat beim Kreativsein verschiedene Quellen angezapft und sich oftmals gefragt, welche das wohl sind und woher die Intuitionen, die Einfälle und Ideen stammten, die man so bereitwillig durch sich fließen ließ. Manchmal spürt man es deutlich, wer oder was die Musik komponierte und den Roman inszenierte, manchmal ist es unklar und verschleiert. Zuweilen ist man überrascht über die brauchbaren und klugen Hinweise, die man für das eigene Leben aus dem fertigen Werk ziehen kann, gelegentlich schreckt man vor der Düsternis und Rohheit zurück, die man darin findet. Dazwischen gibt es viele Abstufungen, man pendelt hin und her in diesem Spannungsfeld, das die Kreativität hervorbringt. Irgendwann aber wird man der Sache müde, so wie man allem müde wird, was man bis zum Erbrechen wiederholt hat. Es wird langweilig. Man läuft Gefahr, aus der Hingabe zu fallen und mechanisch zu handeln, und an Meisterwerke, die man früher vollbracht hat, kommt man trotz – und gerade wegen – aller Bemühungen nicht mehr heran. Man wird den Erwartungen nicht mehr gerecht, weder den von anderen noch den eigenen. Alles, was man hervorbringt, ist erneut seelenlos und kalt. Die Quellen schweigen, die Flussbetten sind ausgetrocknet, alles Wasser ist ausgeschöpft. Schweigen Ego und Verstand, harrt man jäh in Untätigkeit aus, weil es nichts mehr zu sagen, zu tun und umzusetzen gibt.
Ist nun alles vorbei? Ist das das Ende der Schaffensperiode? Wird man vom Handelnden zum Nichthandelnden, vom weltlichen Menschen zum Mönch, sollte man sich zurückziehen und alles aufgeben?
Nein, bloß nicht! Denn jetzt geht’s erst richtig los! – vorausgesetzt, man ist bereit zu sterben.
Bisher waren die Schöpfungen materielle Geburten, auch wenn es anders erschienen sein mag. Sie stammten aus hierarchisch niederen Quellen, entstanden im Spannungsfeld der Gegensätze, waren sexuell und damit körperlich bedingt. Sie wurzelten hauptsächlich im spiralförmigen Tanz der Polaritäten im Sakralchakra. Wenn die Umstände günstig waren, streckten sie ihre Zweige bis ins Stirn- und Kronenchakra hinauf und holten somit Schattenanteile ans Licht, um sie dort aufzulösen. Wenn nun Stille vorherrscht und von dort „unten“ keine Impulse mehr nach außen und in kein Werk drängen, dann doch nur, weil dieses Chakra – und damit das Unterbewusstsein – durchwandert und gereinigt ist. Was sich einst vor das Licht stellte und Schatten warf, ist weggeräumt. Der Blick, der die Dunkelheit sucht, wird sie nicht mehr finden. Nichts kann mehr von innen nach außen transportiert werden, weil das Innere leer ist.
Nun muss man erneut sehr viel Mut aufbringen, um die rote Pille zu schlucken: Das Ich, das Ego, der Verstand ist mit der Leere nicht vereinbar. Er weiß, dass er sterben wird, wenn man diese Leere akzeptiert. Aber er hat durch den kreativen Prozess auch gelernt, nicht die Quelle, sondern nur Werkzeug zu sein; er weiß, wo sein Platz ist und dass etwas sehr Wunderbares geschieht, wenn er mitspielt. Er ist trainiert, demütig und gehorsam. Er wurde zu keinem Zeitpunkt verdrängt, verleugnet oder erniedrigt, im Gegenteil. Er wurde entlastet, gereinigt und in eine Reihe mit den anderen Werkzeugen gestellt, die allesamt geliebt und ihrer Funktion entsprechend verwendet werden. Er ist ein Verbündeter, der die Liebe erwidert und deshalb im entscheidenden Augenblick bereitwillig stirbt.
Jede Kreativität, jede Kunst, alles, was wir denken können, ist eine Form von Sprache. Die Wissenschaften, die Mathematik, die Physik, die Geologie, die Malerei, Musik, Poesie: Sie alle sind Sprachen. Wenn wir sie ausreichend studiert und uns zu eigen gemacht haben, müssen wir irgendwann über sie hinausgehen, wenn wir weiterkommen wollen. Wir müssen uns eingestehen, dass sie überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben. Das Wort ›Baum‹ ist nicht der Baum. Das Plätschern in einem Musikstück ist nicht das Rauschen des Baches. Die gemalte Frau ist nicht die Frau, die Modell saß. Die mathematische Formel ist nicht die Bahn, die der Planet durchs Universum zieht. Unsere Vorstellung, wie ein Atom aussieht, ist nicht das Atom. Der Computer, der unser Gehirn nachahmt, ist nicht unser Gehirn. Der Gedanke, etwas sei geteilt oder abgespalten, teilt oder spaltet überhaupt nichts ab. Was wir von Gott denken und fühlen, welches Bild wir uns von ihm machen oder nicht machen und welche Beweise für oder wider seine Existenz wir sammeln, hat überhaupt nichts mit Gott zu schaffen. Das alles sind bestenfalls Lichtreflexionen, die auf die Lichtquelle hinweisen, aber sie sind nicht die Quelle selbst.
An dieser Schwelle steht man also nun. Man kann ins Unbekannte und damit in die Freiheit springen, oder man kehrt ins Bekannte und in die Gefangenschaft zurück. Was passiert, wenn der Komponist zu komponieren aufhört? Was, wenn der Schriftsteller nicht mehr schreibt, der Maler nicht mehr malt, der Bildhauer keine Skulpturen mehr schafft, der Physiker zu rechnen und der Biologe zu sezieren aufhört? Wer sind sie dann?
Wer sind Sie, wenn Sie sich nicht mehr mit dem identifizieren, was Sie am liebsten tun, was Ihnen einen Selbstwert gegeben, was Sie definiert, inspiriert und über andere erhoben hat? Wer sind wir alle, wenn wir darüber hinausgehen und das Ego sterben lassen?
Was bleibt übrig?
Sind wir bereit, es herauszufinden und das erste wahrhaftige Meisterwerk zu erschaffen?
© 2019, Melanie Risi-Meier