Outing: Ich packe aus

Nahtoderfahrung und Samadhi-Erlebnis

12.12.2018

Es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter, diese Überschrift nur zu schreiben. Ich habe Angst vor den Reaktionen, obwohl ich längst kein Geheimnis mehr um das mache, was ich erlebt habe. Zumindest in meinem unmittelbaren Umfeld spreche ich auch Fremden gegenüber offen darüber, aber es als Schriftstellerin in den öffentlich-virtuellen Raum zu stellen, das ist noch mal eine ganz andere Sache.
Ich mache es trotzdem. Ich mache es, weil sich das Jahr dem Ende zuneigt, die kürzesten Sonnenstunden-Tage nahen und ich sowohl äußerlich als auch innerlich mit allem aufräume, damit ich möglichst unbedarft in den neuen Jahreszeitenzyklus einsteigen kann. Ich mache es, weil ich schon lange das Bedürfnis danach verspüre, dieser Angst endlich ins Gesicht zu sehen, und diese Zeit eignet sich bestens dafür.

Über das, was mir während der beiden Erlebnisse passiert ist, werde ich nicht sprechen. Es ist unmöglich, darüber zu sprechen, und ihr könnt mir glauben, dass ich es versucht habe. Ich habe alle Metaphern bemüht, die mir eingefallen sind, habe mein ganzes schriftstellerisches Können aufgeboten und in meinen Büchern seit »Levi« immer wieder damit gerungen und hier und da Hinweise eingestreut, aber es ist unmöglich, es zu beschreiben. Auf dem Markt gibt es ohnehin sehr gute Lektüre darüber; man findet in allen religiösen Richtungen und auch in wissenschaftlichen Büchern Berichte über beides als auch Forschungen dazu (ganz unten gebe ich ein paar Tipps, auch für Betroffene). Aber all das darf man nicht mit der Erfahrung verwechseln, das ist ganz wichtig. Ein Verständnis dafür reicht nicht aus, um es nachvollziehen zu können. Geht man mit dem Verstand an das Thema heran, findet man überall nur Widersprüche, dabei widerspricht sich nichts, weil alles nur Interpretationen ein- und derselben Sache sind.
Kürzlich habe ich ein schönes Gleichnis dafür gehört. Darin stehen Blinde um einen Elefanten herum und betasten ihn. Der, der am Schwanz steht, sagt, der Elefant sei wie ein Seil. Der, der am Bein steht, sagt, der Elefant sei wie ein Baum, und der am Stoßzahn, er sei wie ein Stein. Sie alle haben recht und liegen doch falsch. Sie interpretieren ihre Erlebnisse und merken nicht, dass das, was sie befühlen, so viel größer ist als ihre Interpretationen. Sie können es nicht sehen. Ihre Augen sind blind. (Das Gleichnis stammt aus dem Film »Samadhi«, Link unten.)

Ich habe Jahre mit dem Versuch zugebracht, das zu interpretieren, was während des Nahtoderlebnisses passiert ist. Und um es gleich zu sagen: Ich war nicht klinisch tot, ich war nicht einmal nahe daran. Ich war fast tot, weil ich tot sein wollte – aber ich war nicht klinisch tot. Der Wille jedoch hat ausgereicht, damit ich in dieses Erlebnis hineinstolperte, denn wer nicht mehr auf dieser Erde sein möchte, wird einen Weg finden, um sie zu verlassen. In einem vom Unfall total vernebelten Moment wünschte ich mich mit jeder Faser meines Seins weg, und im nächsten Augenblick war es geschehen und ich befand mich in absoluter Klarheit. Und ich weiß, wäre ich auf einer anderen Ebene nicht entschlossen gewesen zurückzukommen, wäre mein Körper gestorben und die Leute hätten gesagt, ich sei schon früh klinisch tot gewesen. So aber war ich nicht klinisch tot, weil ich es nicht sein wollte / konnte / durfte. Das weiß ich bis in die Tiefen meines Seins, aber ich kann es nicht beweisen und muss das auch gar nicht.
Mehr kann ich nicht sagen, ohne mit zu vielen Interpretationen aufzuwarten, die der Wahrheit nicht einmal nahekommen. Wie bereits angemerkt, hat es Jahre gedauert, bis ich mit dem dummen Interpretieren und Analysieren aufhören und die Erfahrung schlicht als solche akzeptieren konnte.
Auf dieser Erde ist alles in Prozesse eingebunden, und auch bei mir war es ein Prozess. Es brauchte Monate, bis ich auf die Frage, ob ich nicht glaube, mein Gehirn habe mir etwas vorgegaukelt, antworten konnte: »Das macht für mich keinen Unterschied. Ich habe es erlebt und muss damit klarkommen. Das ist alles, was zählt.« (Inzwischen wurde mir von vielen Seiten bestätigt, dass das Gehirn nicht allein die Ursache einer Nahtoderfahrung sein kann; ein gutes Beispiel dafür ist das, was dem Neurochirurgen Eben Alexander geschehen ist, dessen Gehirn nachweislich nicht mehr aktiv war und der dennoch ein solches Erlebnis hatte. Link zum Buch unten.)

Wir sind so sehr gewohnt, Zahlen, Statistiken und Studien mehr Vertrauen zu schenken als unseren eigenen Erlebnissen, dass wir den Elefanten, der mitten in unserem Wohnzimmer steht, nicht mal mehr sehen können, obwohl wir uns täglich an ihm vorbeiquetschen und seine gigantischen Haufen wegputzen müssen. Wir sind eher geneigt, den Menschen, mit dem wir Jahre verbracht haben und den wir lieben, als verrückt zu erklären, als das in Zweifel zu ziehen, was in irgendeiner Zeitung steht, was ein völlig Fremder gesagt hat und was alle anderen nachplappern, als sei es deshalb wahrer, weil es ein ganzer Chor vor sich hin betet. Wir vertrauen blind der Wissenschaft, dabei kennen die meisten von uns die Bedingungen gar nicht, unter denen geforscht wird, geschweige denn welche Menschen mit welcher Geisteshaltung das sind, die da forschen. Und wenn wir es wissen, stellen wir es nicht in Frage, weil wir es für selbstverständlich halten. Wir vergessen, dass ein unheimlich hoher Prozentsatz dessen, was dabei herauskommt, nur Theorien sind. Wir schlagen uns gegenseitig mit geklauten philosophischen Ansichten tot, die in sich immer logisch sind, einander aber ausschließen, statt in einen fruchtbaren Dialog zu treten, der ein Gesamtbild zeichnen könnte. Wir vertreten die Ansichten und Meinungen anderer und streiten uns für sie. Kurzum, wir spalten, spalten, spalten und halten anschließend die Analysen der Einzelstücke für das Ganze (und für die Wahrheit).

Es ist ein Schock auf allen Ebenen, das fallenlassen und auf sich selbst vertrauen zu müssen. Ich könnte Regale mit Büchern darüber füllen, was es bedeutet, welche Konsequenzen es hat und durch wie viele Täler man blind und mutterseelenallein wandern muss, bis man endlich wieder einen winzigen Lichtschimmer vor Augen hat. Ich habe Bücher darüber geschrieben, denn wer meine fiktiven Romane aufmerksam liest, findet darin die Fußspuren auf dem Weg, den ich gehe.
Um dem Missverständnis vorzubeugen: Dabei schließt man wissenschaftliche Erkenntnisse nicht aus. Man schließt gar nichts mehr aus, man gibt allem eine Chance. Und man wird sehr, sehr oft sagen: »Ich weiß nicht, darauf habe ich gerade keine Antwort. Es könnte so sein, muss es aber nicht.«
Es ist ein Schock. Vieles passiert. Man muss sich nicht nur um den Elefanten kümmern, der plötzlich sichtbar vor einem steht, sondern auch um die Schäden, die die Verdrängung und Verleugnung desselben angerichtet haben. Man gesteht sich ein, überhaupt nichts über diese Erde, das Leben und sich selbst zu wissen, weil alles, was man zu wissen glaubt, plötzlich geliehenes Wissen ist, das man gar nicht überprüfen kann. Und mit der Aussage: »Ich weiß nicht« ist man zum ersten Mal ehrlich.

Ich musste nach der Nahtoderfahrung zuerst lernen, nicht ziel- und planlos darüber sprechen zu dürfen. Für mich war es normal, nach einem Erlebnis hinauszugehen und mich mit anderen abzugleichen und von ihnen bestätigt zu werden. Plötzlich war das anders. Die meisten wollten mir nicht zuhören, wollten nichts darüber wissen, und wenn nur wenige es aussprachen, sah ich doch an ihren Gesichtern, dass sie mich für verrückt hielten und ich ihnen leid tat. Selbst meine Großmutter, die sich seit Jahrzehnten mit Berichten über Nahtoderfahrungen beschäftigt, hat mich kein einziges Mal gefragt, was ich erlebt hatte. Sobald ich sagte: »Ich hatte eine Nahtoderfahrung«, war es, als sei ich überhaupt nicht mehr anwesend oder als spräche ich jäh nicht mehr ihre Sprache. Bohrte ich in meinem Unverständnis und aus meinem Gefühl der Isolation weiter, traf ich auf allerlei emotionale Reaktionen, und es hat lang gedauert, bis ich merkte, dass die Leute Angst haben. Es war mein Fehler, diese Angst derart unsensibel anzurühren, und alle Reaktionen, die ich heraufbeschwor, hatte ich verdient. Ich benahm mich wie ein ausgehungerter junger Hund, der andere ausgehungerte Hunde anfällt, in der Hoffnung, sie hätten etwas zu essen für ihn. Kein Wunder, dass ich gebissen und aus dem Rudel ausgeschlossen wurde.
Heute ist das anders. Ich habe ein Gespür dafür entwickelt, wann ich etwas weiter vordringen darf und wann die ertragbare Grenze in meinem Gegenüber erreicht ist. Jedenfalls meistens. Außerdem brauche ich die Bestätigung durch andere gar nicht mehr, weil ich begriffen habe, was ich mit dem Gleichnis mit den Blinden und dem Elefanten zum Ausdruck bringen wollte: Andere können die eigene Erfahrung nicht bestätigen, weil sie eine andere Stelle des Daseins – des Soseins – erkunden und meine nicht kennen können, und doch bestätigen sie es mir alle, eben weil ich das begriffen habe.

Fast auf den Tag genau sieben Jahre nach der Nahtoderfahrung geriet ich unverhofft in ein sog. Samadhi-Erlebnis. Das war eine ganz andere Nummer, denn diesmal stolperte ich bei vollem physischem Bewusstsein hinein, wenn auch nicht geplant, und diesmal fiel ich nicht ins Bodenlose, weil der vorangegangene Weg mich bereits ›umgedreht‹ und ›aufgerichtet‹ hatte. Ich wusste etwas mit dem Erlebnis anzufangen und musste nicht erst lernen, mir selbst zu vertrauen, auch wenn diese Lehrstunde noch nicht beendet ist. Mir war sofort klar, es geschieht etwas Bedeutsames und ich kann mich bedingungslos hingeben, auch weil ich auf das Leben vertraue, das mich niemals fallen lässt.
Das ist nun knapp zwei Jahre her. Wie nach dem Nahtoderlebnis hat mich auch das grundlegend verändert. Diesmal sind die Veränderungen subtiler, denn nach ersterem trat der Wandel sehr, sehr deutlich zutage. Beispielsweise hat sich meine gestörte, zutiefst verdrehte Beziehung zu den Menschen im Allgemeinen in ihr Gegenteil verkehrt, etwas, wofür ich so dankbar bin, dass ich jedes Mal weinen könnte. Ich sehe sehr viel klarer, wer sie sind und kann das von dem unterscheiden, was sie zu sein vorgeben und woraus ihre Handlungen entspringen, eben weil ich es bei mir selbst endlich sehen kann. Das ändert alles.
Die Verdauung dieses Erlebnisses ist noch nicht abgeschlossen, aber ich glaube, es war ein Samprajnata-Samadhi, also eine ›bewusste Samadhi-Erfahrung‹. Die Bezeichnung Samadhi benutze ich im Übrigen deshalb, weil ich ansonsten keinen Begriff gefunden habe, der inhaltlich besser zu dem passt, was ich erlebt habe. Überdies verbinden die meisten von uns nichts damit, und das kommt mir gelegen. ›Erleuchtung‹ klingt, als hätte ich etwas erreicht, als sei ich nun mehr als zuvor, doch das ist nicht wahr. Ich war das schon immer und erreichte nichts, sondern ließ alles los (resp. alles wurde losgelassen, denn das tat nicht ich), und wenn überhaupt, dann wurde ich in jenem Augenblick sehr viel weniger und kehrte nur zur ›vollen Leere‹ zurück (wurde zurückgeholt). Aber auch das klingt falsch, es ist einfach nicht richtig. Das ist nichts als Geschwätz, wie Nick Moran aus dem »Fourfold-Clan« sagen würde.
Außerdem ist der Zustand nach einigen Wochen wieder ›ausgeklungen‹, nach ca. drei Monaten war meine Wahrnehmung wieder ›normal‹ (eigentlich ja anormal). Die Veränderung in mir ist natürlich geblieben, vieles ist anders, aber auch darüber kann ich im Detail (noch) nicht sprechen.

Nun ist es auf jeden Fall raus. Um mich nicht komplett zu entblößen und mich nicht dem möglichen Spott auszusetzen, werde ich es bei diesen Zeilen belassen. Vielleicht versteht ihr nun auch meine Romane und Artikel etwas besser – das würde mich sehr freuen –, immerhin sind sie alle Resultate dieser Erlebnisse und meine Versuche, etwas auszudrücken, das nicht gesagt werden kann. Wenn ihr also an der einen oder anderen Stelle Widersprüche findet oder gänzlich anderer Meinung seid, denkt bitte immer an die Blinden und den Elefanten und dass wir uns in der Vielfalt unserer Erfahrungen ergänzen und nicht ausschließen sollten, da wir ohnehin alle dasselbe betasten.

Herzlichst, eure Melanie

 

Tipps:

  • Der Film „Samadhi“, der einen wunderbaren Einblick in das Phänomen gibt.
  • Das Buch „Heilung im Licht“ von Anita Moorjani, die an Krebs erkrankte und durch ein Nahtoderlebnis geheilt wurde. Ihr Buch ist deshalb sehr empfehlenswert, weil es mit vielen Vorstellungen aufräumt, und das in einer sehr sanften und einfühlsamen Sprache, mit viel Witz und treffenden Beschreibungen.
  • Das Buch „Blick in die Ewigkeit“ von Dr. med. Eben Alexander, einem Neurochirurgen, der nichts von Nahtoderlebnissen hielt, bis er selbst eines hatte.
  • Das Buch „Abenteuer Jenseits“ von Gerald F. Rubisch, das neben einigen Fallbeispielen vor allem für Betroffene Seelenbalsam sein kann, weil es beschreibt, wie es einem danach geht; Stichwort „plötzlich zart besaitet“ bzw. „plötzlich hellsichtig“.  Mit Herrn Rubisch stand ich kurz in Mail-Kontakt, er ist ein äußerst engangierter und freundlicher Mann.
  • Die DVD „Wiedergeburt“, ein Film von Thomas Schmelzer, in dem dem Thema auf verschiedenen Ebenen auf den Grund gegangen wird und viele erhellende Interviews zu finden sind. Auch zu Herrn Schmelzer, der selbst ein Nahtoderlebnis hatte, nahm ich Kontakt auf, und wir stehen noch heute in freundschaftlicher Verbindung. Ein sehr herzlicher, wunderbarer Mensch, der mit Mystica.tv eine wichtige Arbeit verrichtet!
  • Die Autobiographie „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ von C. G. Jung, in der er u. a. auch von seinem Nahtoderlebnis berichtet. Mir fiel es anfangs leichter, anerkannten Ärzten zu glauben als anderen Autoren oder irgendwelchen esoterischen oder spirituellen Lehrern / Lehren, und die Werke von Jung haben mir sehr weitergeholfen.